Asyl – zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Kaum ein Thema wird derzeit so intensiv diskutiert wie der Bereich Asyl. In den Parlamenten, den Medien und auf den Stammtischen quer über den Kontinent wird der Diskurs auf allen Ebenen emotional geführt. Dabei ist das Themenfeld Migration generell und Asyl im Speziellen für den Einzelnen aufgrund seiner Komplexität kaum noch fassbar.

Die Ursachen, warum sich Menschen in Bewegung setzen, sind vielfältig. Und doch liegen dem Verlassen des Herkunftsortes oft widrige Umstände zugrunde. Eben jene Bedingungen, unter denen Menschen in ihre Zielländer gelangen oder dabei scheitern, erzeugen bei den Bürgern in ganz Europa unterschiedliche Grade der Betroffenheit. Die humanitäre Dimension sowie die Implikationen auf die Gesellschaft und auf deren hochentwickelte Modelle des Arbeitsmarktes werden nur zu oft missverständlich diskutiert. Ebenso die Auswirkungen von Migration auf die Wirtschaft, das Bildungs- und Sozialwesen.

Logistische Grenzen

Das komplexe Themenfeld bringt eine emotionalisierte Debatte mit sich. Dies erfordert umso mehr faktenbasierte Grundlagen und neutrale Informationen. Immer mehr Menschen sind durch bewaffnete Konflikte oder Verfolgung aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, politischen Gesinnung oder Religion dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Laut UNHCR, dem Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen, sind derzeit rund 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Österreich hat eine lange Tradition der Hilfsbereitschaft. Seit 1945 wurde zwei Millionen Menschen Schutz gewährt. 700.000 von ihnen sind geblieben. Im Jahr 2013 gab es in Österreich 17.500 Asylanträge, im Folgejahr eine Steigerung um 60 Prozent auf über 28.000 Anträge. Die derzeit vorliegenden Prognosen für das Jahr 2015 gehen von 70.000 bis 80.000 Asylanträgen aus. Was ein solch sprunghafter Anstieg von Asylwerbern für die Ressourcen im Verfahrens- und Betreuungsbereich bedeutet, lässt sich logisch aus der Anwendung der Grundsätze ableiten. Hinter jedem Verfahren und jeder Betreuungsleistung steht personeller, monetärer und logistischer Einsatz, der – in Zeiten einer Ressourcenverknappung – innerhalb kürzester Zeit zumindest verdoppelt oder verdreifacht werden müsste. Hier stoßen die dem Bund zur Verfügung stehenden Finanz- und Personalplanungsinstrumente an die Grenzen ihrer Flexibilität. Im Monat Mai des laufenden Jahres war Österreich bei Asylanträgen pro Kopf europaweit führend, noch vor Schweden oder Deutschland und deutlich vor Mittelmeeranrainerstaaten wie Italien, Griechenland und Malta. Der bloße Vergleich der Asylantragszahlen ist jedoch nur eine Orientierungshilfe.

Systemschwächen

Wie so oft empfiehlt sich auch hier ein vertiefender Blick. Innerhalb der Europäischen Union gab es im Jahr 2014 rund 626.000 Asylanträge. Diese Zahl ist statistisch richtig, gleichzeitig aber auch irreführend, wird doch der Eindruck vermittelt, dass genau diese Zahl von Menschen in Europa um Asyl angesucht hat. In der Realität stellen Asylwerber auf ihrer Reise durch Europa oft mehrere Asylanträge und es kommt daher zu Doppelregistrierungen. So hat beispielsweise Ungarn eine hohe Anzahl von Asylverfahren, wobei viele Asylwerber nur kurz im Land verbleiben und sich weiter in ihre tatsächlichen Zielländer begeben, wo sie erneut einen Asylantrag einbringen. Die DublinRegelung soll in dieser Hinsicht einen gewissen Ausgleich für Zielstaaten mit besonders vielen Asylwerbern schaffen, denn die Dublin-III-Verordnung besagt, dass das Asylverfahren grundsätzlich in jenem Staat der Vertragspartner zu führen ist, den ein Asylwerber zuerst betreten hat. Bei allen praktischen Schwächen ist dieses Ausgleichssystem derzeit noch immer das beste zur Verfügung stehende Solidaritätsinstrument in diesem Bereich. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Asylwerber Staaten mit einem höheren Versorgungs- und Sozialniveau, hochentwickelten und effizienten Asylverfahrenssystemen, bereits vorhandenen Migranten-Communitys und der Möglichkeit zu arbeiten bevorzugen. So sind die in den Statistiken angeführten Asylantragszahlen nicht immer mit den durchgeführten Asylverfahren bzw. erteilten Schutztiteln gleichzusetzen. Derzeit ist die Verteilung der Asylsuchenden innerhalb der Europäischen Union äußerst unausgewogen. In zehn Mitgliedstaaten wurden im Vorjahr 92 Prozent aller Asylanträge gestellt. Im Umkehrschluss wurden daher in 18 Mitgliedstaaten nur acht Prozent der Asylanträge gestellt. Dass dies nicht als Best-PracticeBeispiel für Solidarität gelten kann, sondern eher als Antithese dazu, ist gerade augenscheinlich. Dringend bedarf es einer Lösung, wie Europa mit schutzsuchenden Menschen umgeht. Alleine im Nahbereich um Europa sind 20 Millionen Menschen auf der Flucht.

Lösungsansätze

Klar ist, dass die Lösung in Anbetracht der großen Zahl an Menschen nicht allein in Europa liegen kann. Die Europäische Union kann mit ihren rund 500 Millionen Menschen nicht alle Menschen Afrikas oder der Erde aufnehmen, die auf der Flucht oder arm sind. Laut Angaben der UNO muss eine Milliarde Menschen unter einem Dollar, weitere 2,7 Milliarden Menschen der Erde mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen. Das heißt, dass rund die Hälfte der Weltbevölkerung zumindest einkommensarm ist. In Bezug auf Armut muss die hier bestehende Verantwortung Europas durch eine faire Gestaltung der Handels-, Wirtschafts- und Zollpolitiken, ergänzt durch Entwicklungszusammenarbeit, gelebt werden. Die Lösung kann nur mit Europa gelingen, liegt jedoch nur in den wenigsten Fällen in Europa.

Wem helfen?

In Anbetracht der gegenwärtigen Situation muss die heikle Frage erlaubt sein, ob Europa derzeit tatsächlich jenen Menschen hilft, die am meisten unserer Unterstützung bedürfen, oder jenen, die für die beschwerliche Reise stark genug sind und sich die Aufwendungen für die Schlepper leisten können? Die Schlepperkosten von Syrien nach Österreich belaufen sich derzeit auf etwa 8.000 bis 12.000 Euro. Aus ethischer Perspektive stellt sich also die Frage, ob wir den „Richtigen“ helfen. Bedürfte es nicht eines Paradigmenwechsels, eines Systems, in dem den Schwächsten und besonders schutzbedürftigen Personen geholfen wird? Gerade diese schaffen es derzeit nicht nach Europa und sind auch nicht Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit. Wenn mit dem Leid der Menschen im Mittelmeer argumentiert wird, dann sehen wir dabei gleichzeitig nicht, welches Leid jene Menschen erdulden, die in Kriegs- und Krisenregionen zurückgeblieben sind bzw. die auf ihrem Weg Opfer der Strapazen oder krimineller Handlungen geworden sind.

Auf legalem Weg zur Sicherheit

Daher gilt es, stärker in Krisenregionen oder deren Umfeld aktiv zu werden. Ziel sollte es sein, mit erfahrenen und global agierenden Institutionen ein System zu etablieren, bei dem Menschen vor Ort abklären können, ob sie tatsächlich in Europa Asyl erhalten werden oder nicht. Diese Personen können dann auf sicherem und legalem Wege nach Europa gebracht werden. Sie erhalten – nach einer Verteilung anhand eines fairen Schlüssels – in den unterschiedlichen europäischen Staaten unmittelbar einen Schutzstatus und werden in integrativer Hinsicht betreut, um möglichst rasch selbsterhaltungsfähig zu werden. So weit der perspektivische Grundgedanke, der sich nach intensiven Bemühungen der österreichischen Innenministerin auch im Entwurf zur Europä- ischen Migrationsagenda wiederfindet. Diese österreichische Initiative ist auf europäischer Ebene unter dem Namen „save lives“ bekannt geworden. Demnach sollen 20.000 schutzbedürftige Menschen nach Europa gebracht und innerhalb Europas nach den Kriterien Bevölkerungsgröße, BIP, Anzahl der Asylwerber in den letzten fünf Jahren und Arbeitslosenrate aufgeteilt werden. Für Österreich würde dies einen Prozentsatz von 2,22 Prozent (444 Personen), für Deutschland 15,43 Prozent ergeben. Aber es wäre in Anbetracht der großen Aufgabe, den vielen fliehenden Menschen und dieser angepeilten 20.000 Personen fast zynisch, nur auf die Buchstaben in einer noch nicht beschlossenen Migrationsagenda zu verweisen. Daher holt Österreich zusätzlich zu jenen, die einen Asylantrag direkt in Österreich stellen, 1.500 Menschen sicher in unser Land, die nach einer Prüfung klar einen Schutzbedarf aufweisen. Die hohe Zahl an Menschen in Krisenregionen macht aber deutlich, dass dies nur ein erster Schritt sein kann.

Zwischen Anspruch und Realität

Nicht nur auf europäischer Ebene wird die Debatte über die Aufteilung der Asylwerber hitzig verhandelt. Lenkt man den Blick auf Österreich, wird die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit besonders offenbar. Auch in unserem überschaubar großen Föderalstaat gibt es den abstrakten Willen – über alle Parteigrenzen und Gebietskörperschaften hinweg –, verfolgten Personen zu helfen. Werden aus der Abstraktheit jedoch Handlungen abgeleitet und gilt es, Menschen ein konkretes Dach über dem Kopf anzubieten, stößt man leider viel zu oft an die Macht der politischen Furchtsamkeit. Die Devise lautet: Helfen ja, aber am besten nicht bei uns. Prominente Beispiele zeigen, dass die Unterbringung von schutzsuchenden Menschen keine negativen Auswirkungen auf das Wahlergebnis in der Gemeinde haben muss. Doch die Angst vor den Auswirkungen eines solch schwierigen Themas auf die Wahlergebnisse lässt bei vielen Entscheidungsträgern vor Ort eine Abwehrhaltung zutage treten. Dies ist auch der Hauptgrund für die zu gering vorhandene Quartierkapazität. Als Leiter des wöchentlichen Krisenstabes zur Unterbringung von Asylwerbern kann ich auch anhand der Rückmeldungen der Praktiker aus den Bundesländern berichten, dass die Schaffung von neuen Quartieren nur in den allerwenigsten Fällen am Geld scheitert. Der monetäre Reflex vieler ist in der öffentlichen Kommunikation einfach zu transportieren. Aber es bleibt letztlich eine Frage der Solidarität und Hilfsbereitschaft und ist nicht mit dem einfachen Ruf nach mehr Budget zu lösen. Vielmehr würde ein noch höheres Betreuungsniveau die Attraktivität Österreichs weiter erhöhen und damit ein Beitrag zur ungleichen Verteilung der Asylwerber innerhalb Europas geleistet werden.

Mangelnde Solidarität

Der Bund, den nach einer Art.-15a-BVG-Vereinbarung nur in den ersten Tagen eine Versorgungspflicht von Asylwerbern trifft, ist aufgrund der nicht ausreichend stattfindenden Übernahmen durch die Mehrzahl der Bundesländer gezwungen, die Betreuung für jene Personen auszudehnen, die bereits in ein Bundesland überstellt werden könnten. Dass bei Asylantragszahlen zwischen 250 und 380 pro Tag die nur für die Erstaufnahme der Menschen ausgelegten Kapazitäten des Bundes rasch erschöpft sind, liegt auf der Hand. Standen dem Bund für diese Erstaufnahme noch vor einem Jahr rund 2.000 Plätze zur Verfügung, mussten diese Kapazitäten auf über 6.000 Plätze verdreifacht werden. Ab Zulassung zum Verfahren könnten die Personen in die Bundesländer überstellt werden. Würden alle Asylwerber, die zum Verfahren zugelassen sind (mit Stand 1. 7. 2015: 2.809) in die Bundesländer überstellt werden, würde eine Normalisierung in den überlasteten Betreuungseinrichtungen wie Traiskirchen eintreten. Kurz gesagt: Würden alle Bundesländer jene Quote erfüllen, zu der sie sich selbst verpflichtet haben, müssten keine Asylwerber in Zelten untergebracht werden – Anfang Juli waren dies 1.007 Asylwerber. Aber auch hier muss ein vollständiges Bild gezeichnet werden: Die neun Bundesländer konnten in ihrem Zuständigkeitsbereich die Zahl der Quartiere von 24.000 auf 41.000 innerhalb eines einzigen Jahres erhöhen, was die Schaffung von 17.000 zusätzlichen Plätzen bedeutet. Dass dies nur durch gewaltige Anstrengungen möglich war, ist hervorzuheben. Aber durch die stark steigenden Asylantragszahlen erhöht sich der Bedarf der zu schaffenden Plätze täglich, und es besteht für Bund und Länder eine permanente Herausforderung. In der Debatte wird jedoch vor allem auf jene Plätze fokussiert, die nicht geschaffen wurden. Für das Erreichte wurde kaum Wertschätzung zum Ausdruck gebracht. Die gegenwärtige Situation in Österreich hat daher sowohl mit den pro Kopf europaweit höchsten Asylantragszahlen zu tun und wird durch partiell mangelnde innerstaatliche Solidarität in einem föderalen System verschärft. In Österreich gilt es nun auch im Interesse der öffentlichen Meinung und der Vermeidung des Bildes, dass der Föderalstaat mit dieser großen Herausforderung überfordert wäre, geschlossen aufzutreten. Wird das Thema mit medialer Aufmerksamkeit überhäuft und entsteht in dieser Betrachtung der Eindruck, dass die unterschiedlichen Akteure diese gewaltige Herausforderung nicht bewältigen können, kann dies als Beitrag gesehen werden, den Zentrifugalkräften in unserer Gesellschaft Vorschub zu leisten