FIV Positionspapier zum Krisenmanagement

Erfolgsfaktoren im öffentlichen Sektor im Zusammenhang mit der Bewältigung von Krisen
Einrichtung eines zentralen Steuerungssystems zur Krisenbewältigung gesamtstaatlicher Krisen und Katastrophen

(formell z.B. durch ein Krisenbewältigungsgesetz des Bundes)

  • Ein formell zuständiges politisches Gremium tritt im Krisenfall zusammen, legt den Beginn (bzw. in Folge das Ende) einer gesamtstaatlichen Krise bzw Katastrophe fest, ermächtigt einen oder mehrere fachlich für die konkrete Krise zuständigen Minister mit einer (befristeten) Notkompetenz, wobei die grundsätzlich verfassungsrechtlich festgelegten Zuständigkeiten  (insbesondere unter Beachtung der Subsidiarität auf Länderebene) nach Möglichkeit unverändert bleiben sollten.
  • Zur Umsetzung der politischen Aufträge wird ein Krisenstab eingerichtet (z.B. aufgewertete 7er-Lage), der
    • eine kongruente strategische Ausrichtung entsprechend dem politischen Auftrag steuert
    • Grundsatzfragen im Bereich der Hoheitsverwaltung entscheidet
    • für eine Verteilung der zu bewältigenden Aufgaben und beteiligten Organisationen und Behörden sorgt
    • die Bereitstellung der benötigten Ressourcen garantiert. Die Ausgestaltung (Anpassung auf Anforderungen der konkreten Krise) und die Prozesssteuerung des hier beschriebenen zentralen Steuerungssystems organisiert
    • die Koordination der dezentralen Steuerungssysteme verantwortet
    • die Krisenkommunikation organisiert
    • die Informationsbeschaffung und die Erstellung von Lagebildern organisiert
    • zur Klärung spezifischer rechtlicher und fachlicher Fragestellungen und Vorgangsweisen erteilt der EntscheiderInnenkreis Aufträge an ExpertInnengruppen in Anlehnung an Methoden des Projektmanagements
    • den Kontakt zur politischen Steuerungseinheit hält.
  • Die Sicherstellung der budgetären Vorsorge im Krisenfall muss verlässlich bereits vorab in einem adäquaten Rahmen (etwa durch eine Ermächtigung der Bundesregierung oder Einrichtung eines Krisenfonds) gewährleitet sein.
  • Die Organisation, Abstimmung und Kommunikation zwischen dem öffentlichen und pluralen Sektor wird in einem Mix aus hierarchischen Entscheidungen und Selbstorganisation situativ bestimmt. Es braucht einerseits eine Einbeziehung der etablierten zivilgesellschaftlichen Organisationen und andererseits der nicht so etablierten Zivilgesellschaft.
  • Good Governance als Handlungsprinzip: Es reicht nicht aus, gesetzliche Regelungen zu schaffen, sondern es ist die Herausforderung der Steuerung eines komplexen sozialen Systems unter erschwerten Bedingungen zu bewältigen.
  • Reflexionsschleife und systemische Aufarbeitung nach der Krise
  • Standardisiertes Training, Knowhow-Transfer

 

Hintergrund:

Definition und derzeitige Organisation Katastrophen- und Krisenmanagement

Mit dem Instrumentarium des Katastrophenmanagements werden komplexe und in ihrer konkreten Ausgestaltung schlecht oder nicht vorhersehbare Schäden bzw. Gefährdungen gemanagt.

Von dieser Form des Katastrophenmanagements (z.B. Naturereignisse, außerordentliche Unfälle oder elementare technische Ereignisse) ist das Management Ultrakomplexer Krisen (Begriff aus der Studie und Buch von Wolfgang Gratz), wie es die Flüchtlings- Transitkrise September 2015 darstellte, zu unterscheiden.

Die Katastrophenhilfe im ersten Fall fällt in die Zuständigkeit der Bundesländer, soweit es nicht um Maßnahmen geht, die in die Zuständigkeit des Bundes fallen. Die Bundesländer beschließen Katastrophenhilfegesetze, organisieren die Katastrophenhilfe und tragen deren Kosten. In Österreich steht auf Landesebene ein gesetzlich fundiertes, professionalisiertes, vielfach erprobtes, ständig weiterentwickeltes und auf hohem Niveau befindliches Katastrophenmanagement zur Verfügung. In der Bevölkerung besteht ein hohes Ausmaß von Vertrauen in die behördlichen Akteurinnen und Akteure und in die verschiedenen Einsatzorganisationen.

Auf bundesstaatlicher Ebene gibt es seit 2009 die vom Ministerrat beschlossene „SKKM-Strategie 2020“ (Staatliches Krisen- und Katastrophenmanagement). Es wurden strategische Zielsetzungen, Maßnahmen und Instrumente definiert, ohne in einzelne Zuständigkeiten einzugreifen.

Seit 2005 ist im BMI das Einsatz- und Krisenkoordinationscenter als zentrale Informations-, Kommunikations- und Koordinationsplattform einschließlich des operativen Bereichs der Bundeswarnzentrale für das staatliche Katastrophen- und Krisenmanagement eingerichtet.  Bundesländerübergreifende Einsätze werden durch SKKM-Gremien bzw. informelle Kontakte gewährleistet, jedoch nicht näher geregelt. Die sogenannten „3er oder 7er-Lagen“ sind regelmäßige oder anlassbezogene Besprechungen der Hoheitsverwaltung, Nichtregierungsorganisationen und allfällig betroffener/unterstützender Infrastrukturorganisationen zur Sicherheitslage Österreichs im Führungsstabraum des Einsatz- und Krisenkoordinationscenters.

 

Anlass

Im Zusammenhang mit der Flüchtlings-/Transitkrise im Sommer 2015 zeigte sich, dass die bestehenden Strukturen und Prozesse nicht ausreichten, um von einem funktionierenden Staatlichen Katastrophen- und Krisenmanagement zu sprechen. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die gesamtstaatliche Krisenmanagementkompetenz ist nicht gegeben.

 

Merkmale von gesamtstaatlichen Krisen

Um die Erfolgsfaktoren für das Management von gesamtstaatlichen Krisen zu entwickeln ist es notwendig, sich mit den Merkmalen und Anforderungen von sogenannten Ultrakomplexen Krisen zu beschäftigen (Bezug: Studie Wolfgang Gratz).

Im gesamtstaatlichen Krisenfall sind massive und interpendente Auswirkungen auf das politische, soziale und ökonomische System gegeben in einer Verbindung zu unscharfen Grenzziehungen zu ungelösten gesellschaftlichen und/oder politischen bzw. ökonomischen Problemen.

  • Es besteht eine Vielfalt fachlicher Aspekte (rechtliche, ökonomische, politische, soziale, sicherheitsbezogene, interkulturelle)
  • Es ist eine Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren mit teilweise sehr unterschiedlichen Erfahrungen, Eigenlogiken, Interessen, Zielsetzungen und Professionalisierungen eingebunden und zu organisieren.
  • Bei neuartigen Krisen liegt zu Beginn noch keine ausformulierte Strategie vor.
  • Nicht bloß bekannte NGO’s, sondern auch Freiwillige und zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure in verschiedenen Organisationsformen spielen bei der Krisenbewältigung eine Rolle.
  • Es bestehen internationale bzw. europäische Bezüge, Verflechtungen, Konflikte und Interessensgemeinschaften, die eine bloß nationale Lösung ausschließen.
  • Die Krise erstreckt sich über eine längere Zeitdauer mit keinem klar definierten Anfangspunkt und keinem eindeutig bestimmbaren Endpunkt.
  • Einerseits haben inhaltliche politische Fragen und Programme große Bedeutung und andererseits dominieren tagespolitisch-taktische Spielzüge der politischen Akteure die Dynamik.
  • Die Erscheinungsformen und Verläufe der Krise stoßen auf hohes Interesse in allen Formen der Medien.
  • Bei den Beteiligten, Betroffenen und in der Öffentlichkeit entstehen starke Gefühle, insbesondere auch konkrete Befürchtungen und diffuse Ängste.
  • Es bestehen verschiedenartige und gewichtige Konfliktfelder (bezüglich Zielsetzungen, zu Grunde liegende Werte, Ressourceneinsatz, Fragen von Macht und Einfluss).
  • Informationen, deren Beschaffung, Verarbeitung und Verbreitung stellen zentrale Ressourcen dar.
  • Entscheidungen als entscheidende Ressourcen erfolgen unter erschwerten Bedingungen, Zeitdruck, Neuartigkeit der Herausforderungen, Unwissenheiten, Mehrdeutigkeiten, Bedarf nach Formen der Selbstverpflichtung und –organisation bei verschiedenen Akteurinnen und Akteuren.
  • Es ist ein sich rasch entwickelnder Bedarf nach größeren Mengen unterschiedlicher personeller, materieller und finanzieller Ressourcen vorhanden, dessen Bedeckung Ungewissheiten aufweist.
  • Führung spielt eine führende Rolle.
  • Die mit der Krisenbewältigung befassten Personen sind hohen, vor allem auch psychischen Belastungen ausgesetzt.
  • UKK haben das Potential, etwas mit dem Selbstverständnis der Akteure und ihrer Organisationen zu machen. Sie haben mögliche Auswirkungen auf deren Identitäten.
  • Wie erfolgreich das Management von UKK ist, kann nicht eindeutig entschieden werden bzw. ist oft subjektiven Haltungen des jeweiligen Betrachters unterworfen.