Die österreichische Bundesverfassung in herausfordernden Zeiten

Hechtner und Grabenwarter

148. Themenforum, 2. März 2022 am Verfassungsgerichtshof

FIV-Präsident Erich Hechtner bezeichnete es „als etwas ganz Besonderes“, im Verhandlungssaal des Verfassungsgerichtshofes ein FIV-Themenforum abzuhalten – umso mehr, als es eine der ersten „vor Ort“-Veranstaltung seit längerer Zeit ist. Er sprach in seiner Begrüßung aktuelle Entwicklungen an – sowohl die Pandemie als auch den Krieg in der Ukraine“, die „mit Wucht eingeschlagen“ hätten. Mit diesen „bewegten Zeiten“ gelte es nun umzugehen. Es sei jedenfalls „eine sehr große Ehre“, mit dem Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes Christoph Grabenwarter heute Abend im Gespräch zu sein.

Christoph Grabenwarter ist seit zwei Jahren Präsident des VfGH, davor Vizepräsident und seit 2005 als Richter am VfGH tätig. Er würde „zwei Dinge vereinen“, eine Karriere in der Wissenschaft – etwa mit einer Professur in Bonn oder seiner Tätigkeit an der Wirtschaftsuniversität Wien – und jener in Institutionen, stellte Hechtner den Präsidenten vor. Nicht ganz ernst ergänzte Hechtner, die Fragen der FIV-Mitglieder im Zuge der heutigen Diskussion würden bei der nächsten Entscheidung des VfGH „nicht kritisch eingebunden“.

Die erste Frage an den VfGH-Präsidenten lautete, wie Grabenwarter den österreichischen Verfassungsgerichtshof im Vergleich – etwa mit anderen Rechtssystemen in europäischen Raum – sehe. Grabenwarte betonte, dass Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Gewaltenteilung ein „besonderes Austriacum“ seien. Es herrsche ein sehr strenges Legalitätsprinzip, das heißt: jene Anforderungen, „die wir an Gesetze stellen, sind bei uns besonders streng“. Ein weiterer Punkt sei, dass Österreich aufgrund seiner wechselvollen Geschichte ein wohldurchdachtes Demokratieprinzip habe. Grabenwarter betonte weiters, dass „sich der VfGH als Hüter der Verfassung sieht“.

Hechtner legte in seinem Gespräch einen weiteren Schwerpunkt darauf, wie sich der Verfassungsgerichtshof selbst sehe – als Institution im österreichischen Rechtsgefüge. Grabenwarter stellte fest, dass dem VfGH „oft vorgeworfen werde“, dass der Gerichtshof „eigentlich rechtspolitische Entscheidungen treffe“, er verwies als Beispiel auf die Entscheidung für die „Ehe für alle“, „wo eine Lösung des Problems dem Gesetzgeber zukommt“. Aber der Verfassungsgerichtshof hat diese Kompetenz nicht, so Grabenwarter, sondern entscheide „nur nach Antrag“. Beim Thema Sterbehilfe betonte Grabenwarter, dass sich der VfGH auch mit Entscheidungen anderer Gerichte, etwa des EuGH oder anderer Länder beschäftigt habe. Der Verfassungsgerichtshof stehe aber auch im Spannungsfeld mit der Politik: es gelte mit Respekt den Entscheidungen des VfGH gegenüberzustehen. Dieser respektvolle Umgang mit Entscheidungen sei in anderen Staaten nicht in dem Ausmaß gegeben wie in Österreich – „oder nicht mehr“, wie der Präsident feststellte. Grabenwarter sah es als Aufgabe des VfGH, „politische Konflikte in rechtliche Konflikte umzuwandeln“, wie es Judge Stephen Gerald Breyer bei seiner Ankündigung seines Rückzugs aus dem Supreme Court gesagt hat.

Weitere Themen des FIV-Themenforums waren daher Bestellungs- und Besetzungsvorgänge von Richter*innen am Verfassungsgerichtshof, „schillernde Fälle“ wie der „Ortstafelstreit“ oder die vergangene Bundespräsidentenwahl. Grabenwarter sagte zudem, seit 2015 hätten sich die „Fallzahlen am VfGH erhöht“; er nannte die Flüchtlingsbewegung 2015/16 als Beispiel aber auch die Reform der Sozialversicherung, die sich als sehr komplex darstellte. Für ihn selbst seien auch die Themen Vorratsdatenspeicherung und die Entstehung der Grundrechte-Charta auf EU-Ebene sehr interessant gewesen.

In der abschließenden Fragerunde wurden aktuelle Themen wie die Impflicht, eine etwaige „strategische Prozessführung“ oder die Altersgrenze bei VfGH-Richter*innen von 70 Jahren besprochen. Der äußerst spannende Abend klang mit zahlreichen Gesprächen in kleinen Runden aus, die sich aus den diskutierten Fragestellungen ergaben.